1011 und 1013

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Die technische Exekutiveinheit RX299K-1011 befolgte einen streng reglementierten Periodenablauf. Eine Periode bestand aus 1000 Periodeneinheiten und jede dieser Einheiten setzte sich wiederum aus 1000 Ticks zusammen. Jede Periode verließ RX299K-1011 um Punkt 000:001 seine Ladestation auf dem untersten Deck des kommunalen Produktionskomplexes RX299 und begab sich, einer exakt vorgeschriebenen Wegroutine folgend, zu dem ihm zugewiesenen Arbeitsbereich. Die reale Strecke zwischen dem Ladesektor und RX299K-1011s Wirkungsstätte, war die Folge von hochkomplexen und extremstoptimierten Berechnungen, die auf tatsächlichen Vergangenheitswerten und unfehlbaren Zukunftsprognosen beruhten. Von diesem Fahrplan durfte auf keinen Fall abgewichen werden. Jede Einheit befolgte ihren eigenen Periodenplan und musste sich Tick genau an das Erreichen der vorgegebenen zeitlichen Checkpoints halten. Auch die kleinsten Störungen in diesem Ablauf konnten sich verheerend auf das gemeinschaftliche Zusammenwirken der gesamten Produktionsstätte auswirken. Im absolut schlimmsten Fall könnte am jeweiligen Stichpunkt der Große Fertigungsplan nicht vollendet werden, was optimierungstechnische Maßnahmen für den initialen Störungsurheber nach sich zog. In der Regel handelte es sich hierbei um eine absolute Null-Level-Formatierung des lokalen Steuerbereiches und aller modularer Peripherie der betroffenen Einheit, sowie einer Neuprogrammierung der vorgesehener Fertigkeitsbäume. Doch durch ständige Simulationen und pausenlose Auswertungen aller verfügbarer Daten und Kennzahlen wurden die möglichen Störungsszenarien zu 99,9931 Prozent abgedeckt und die zentrale Rooteinheit hielt jeweils die passenden Gegenmaßnahmen für alle errechneten Störungsfällen bereit. RX299K-1011 war in seiner primären Funktion das Mitglied solch einer Notfalltruppe; spezialisiert auf das Beheben technischer Störungen in den interplanetaren Kommunikationsanlagen. Des Weiteren erledigte er Zeit unkritische Reparaturen und sonstige Wartungsarbeiten innerhalb des ihm zugewiesenen Sektors.
"Peep!", erklang es schrill aus dem Lautsprecher an der Rückseite des kleinen zylinderförmigen Körpers und RX299K-1011 wechselte aus dem Standby- in den Produktivmodus. Augenblicklich wurden die neusten Softwareupdates von der entsprechenden Informationsknotenpunkten eingeholt und alle aktiven Datenbestände synchronisiert. Die Systemstabilitätschecks validierten die Stabilität sicherheitsrelevanten Parameter und gaben der Kontrolle in allen Bereichen grünes Licht. Innerhalb drei Ticks war die Exekutiveinheit vollständig aktualisiert und fuhr los um die ihr zugeteilten Aufgaben durchzuführen. Draußen tobten die immerwährenden Stürme über die metallene Oberfläche des Planeten Io. Der sintflutartige Regen prasselte unbarmherzig hernieder und brachte der Welt der Roboter ihren größten Feind: die allgegenwärtige Korrosion. Doch für RX299K-1011 war diese externe Welt unbekannt. Noch erfreute er sich des Luxus einer befreienden Unwissenheit.

Mehrere hundert Lichtjahre entfernt auf dem Planeten Tales versuchte Professor Troy Cannes seinen Studenten das Thema "Entstehung Künstlicher Intelligenzen" näher zu bringen.
"Um eine reale Künstliche Intelligenz zu erschaffen - meine Damen und Herren - muss die Maschine bereit sein Risiken einzugehen. Der Maschine muss ferner erlaubt werden Fehler unterschiedlicher Gewichtungen zu begehen. Bugs und Errors sollten aus der heutigen Sicht der Dinge durchaus gefördert werden. Gleichzeitig muss aber eine Funktionalität der intelligenten Selbstheilung integriert werden, welche das Handhaben und das selbständige Beheben der aufkommenden Probleme im eigenen System ermöglicht. Um Persönlichkeit und charakteristische Fertigkeiten entstehen zu lassen - was bei einem autonom denkenden und handelnden Individuum der unumstritten wichtigste Faktor ist - ist anfangs eine Randomize-Funktion unterstützend in den Entstehungs- und Entwicklungsprozess zu integrieren. Mit diesem unverzichtbaren Werkzeug der progressiven Evolution wird zu Anfang der Grundstein für die Weiterentwicklung des Objektes gelegt. Ferner wird hiermit ein unverherbestimmbares Benehmen simuliert, welches manch nicht nachvollziehbare Wendungen im Verhalten der KI entstehen lässt, um damit menschlichen Launen nach zu eifert. Später soll die implementierte Zufälligkeit auf ein Minimum reduziert werden, um so unterstützend für eine hohe Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und das Erlernen gänzlich neuer Denk- und Verhaltensmuster zu sorgen. Jedoch ist dringend darauf zu achten, dass diese zufälligen Launen mit Bedacht und streng Ziel orientiert eingesetzt werden. Das künstliche Wesen muss sich schließlich in erster Linie frei entfalten können und nicht eine primitive Ansammlung an gewürfelten Zufallswerten und Ereignissen darstellen. Wir lernten aus den Fehlern der vergangenen Jahrhunderte."
Er lachte trocken über seine Anspielung, die außer ihm aber keiner der Anwesenden zu verstehen schien.
"Für die Entwicklung von Eigenschaften wie Gefühle, Kreativität, Verständnis, kurz; die allgemeinen Stärken und Schwächen - also all die individuellen Charakteristika, die eine selbständige Persönlichkeit auszeichnen und einmalig machen, benötigen wir dann nur noch etwas Zeit und viel Geduld.
Eine erstaunlich hohe Zahl meiner hoch geschätzten Kollegen macht stets den gleichen Fehler und misst das Gelingen ihrer KI-relevanten Projekte ausschließlich am Grad der Perfektion, die das erschaffene Wesen am Ende ihrer Bildungsperiode aufweist. Doch das ist falsch! Dies ist der absolut schlechteste Weg an das Vorhaben heran zu gehen und kann nur in allerseltensten Ausnahmefällen zum gewünschten Erfolg führen. Gleichgewicht, ist an dieser Stelle das wichtigste Schlagwort. Das Gleichgewicht zwischen dem Perfekten und dem Fehlerhaften ist der Schlüssel, der uns zu der höchsten Form der Künstlichen Intelligenz führt! Quasi zur nächsten Stufe der Künstlichen Evolution."
Wie aufs Stichwort erklang die Pausensignal und beendete jäh die Stunde.
"Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und bis zur nächsten Woche", verabschiedete sich Professor Cannes von seinen Kursteilnehmern, nach dem der schwache Applaus aus der Publikum verklungen war. Eher teilnahmslos erhoben sich die Studenten von ihren Plätzen, verstauten ihren PersoPads in den jeweiligen Etuis und verließen nach und nach den Raum.
Auch Professor Cannes packte seine Unterlagen zusammen und schüttelte resigniert den Kopf. Den Studenten von heute fehlt einfach die Begeisterung für die gewählten Themenbereiche. Er verstand nicht, wie man jemand, der keinerlei Interesse und Enthusiasmus für die Sache mit sich brachte, diese Sache erlernen wollte. Nun, das sollte nicht sein Problem sein. Noch eine Woche und er würde zu seiner zwölften Forschungsreise aufbrechen. Dort wäre er wenigstens unter Gleichgesinnten. Doch bis es soweit ist, muss er hier eben durch. Auch wenn es bedeutete mit desinteressierten Individuen seine Zeit zu verschwenden. Wobei verschwenden vielleicht das falsche Wort war, immerhin wurde er hier gut bezahlt. Das Thema "Künstliche Intelligenz" hatte in den letzten Jahren einen enormen Aufschwung erlebt. Nun war nicht nur das Metier verschrobener Wissenschaftler und sonderbaren Computerhacker auch der gemeine Mann von der Straße maß sich an das Thema angehen zu können. Bausätze und Software, die sich mit KI befassten waren die absoluten Renner. Konzerne, die ihre Ware stets an die Bedürfnisse ihrer Kundschaft anpassten und unzählige Summen an Credits für Umfragen, Statistiken und Trendvorhersagen ausgaben, waren von dieser Entwicklung dermaßen überrascht, dass die entsprechende Produkte erst sehr spät ihren Weg in den Handel fanden. Doch nicht nur der Handel, auch sachfremde Unternehmen und staatliche Einrichtungen hielten es auf einmal für schick sich mit diesem Thema auseinander zu setzen. Das Fachpersonal wurde immer seltener. Wer sich mit KI beschäftigte - auch wenn seine Erfahrung nur sehr bescheiden war - konnte sich vor Jobangeboten kaum retten. Die Unternehmen überboten sich an Gehältern und speziellen Zuwendungen. Auf solch einer Welle kam auch Troy Cannes angeritten.

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